Brigitte Reutner-Doneus

 

Über Anna Maria Brandstätters Naturwunderwelt 

 

 

Künstler*in ist, wer seine persönliche Beziehung zu diesem phantastischen Magma findet. 

Und der durch ein kleines Loch so lange weiterbohrt, bis sich seine Phantasie materialisiert. 

Und sie muß auch zugeben, daß sie sich nicht mit einem Schlag materialisiert, sondern durch einen Treffer nach dem andern … Ich sehe einen kleinen Schwanz und ziehe und ziehe, bis ich schließlich einen Elefanten entdecke…. (Georges Simenon, in: L’Espress Nr. 949, 15.9.1969, S. 102.)

 

 

Im Medium der Zeichnung füllen sich Flächen nur sehr langsam. Linien neben Linien, Strukturen über Strukturen. Dazu benötigt man viel Geduld. Manchmal wirkt diese Betätigung geradezu meditativ. Anna Maria Brandstätter bringt in ihrer Technik immer wieder neue visuelle Qualitäten und neue Formen zu Papier: Türme, Medaillons, Serien mit Pflanzenwerk wie Blättern und Früchten, abstrahierte Hautkompartimente und vieles mehr.

Zu Beginn der Türme stand jener am Strand von Conil de la Frontera, im Süden Spaniens, an der Costa de la Luz. In dessen luftigen Höhen brüten Ibisse. Die glatte Oberfläche des ehemaligen Wachturms weist keine Fenster auf, nur schmale Sehschlitze.

Ein dynamisches Netz hellerer Linienbündel liegt in den Zeichnungen dieser Serie über dunkleren Strukturen, die Baumstämmen ähneln. Kompaktheit und Lockerheit werden miteinander kombiniert. Die dunklen lang gezogenen Motive heben sich gegen den gelben Bildgrund kontrastreich ab.

 

Für die Babylonier war der Turm das Symbol der Achse des Kosmos und Bindeglied zwischen Himmel, Erde und Unterwelt. Seine erotische und generative Funktion kommt im Mythos von Danae (die ihr Vater in einen goldenen Turm sperrte und die Zeus dort schwängerte) sowie in den Allegorien höfischer Liebe und den Märchen von Rapunzel und Dornröschen zum Ausdruck. Im Judentum stand der Turm als Sinnbild für den Hochmut des Menschen bzw. sein Streben nach Unendlichkeit. Pieter Bruegels Gemälde „Turmbau zu Babel“ aus dem Jahr 1563, das sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet, erhebt sich wie ein himmelwärts strebendes, aber gleichzeitig schon erodierendes Gebirge, ohne Struktur und ohne Logik, als Sinnbild vergeblicher menschlicher Lebensmüh‘. 

Anna Maria Brandstätter setzt sich vor allem mit den Anschauungsqualitäten von Türmen auseinander, nicht so sehr mit Inhalt und Bedeutung. Zuerst wird farbige Tusche auf das Papier laviert, dann kommt der feine Federstrich zur Anwendung. Die Form ergibt sich häufig aus der Untermalung. Manchmal wird wieder darüber laviert und erneut gezeichnet. Dies ist möglich, weil die Tusche wasserdicht ist. Ihre Türme behaupten sich auch als abstrakte Formgebilde, als Linien und Lavierungen auf Papier.

 

Seit vielen Jahrhunderten nimmt die Zeichnung als unmittelbare Umsetzung eines Gedankens auf Papier einen besonderen Stellenwert in der Kunst ein. Mit einem Zeichenstift können Dinge im Handumdrehen materialisiert werden. Allein die Sichtbarkeit zählt. Etwas darzustellen bedeutet in diesem Kontext etwas zu erschaffen, es zu besitzen, der Dinge habhaft zu werden. Zeichnen erweist sich als eine Form der Approbriation, der Aneignung, des Erschaffens und Sichtbarmachens.

Als wichtige Inspirationsquelle für Anna Maria Brandstätter können Fantasyfilme, wie der Herr der Ringe genannt werden. In Fantasy werden Dinge möglich, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Das Genre bietet der Künstlerin ein großes kreatives Potenzial. Eintauchen in eine andere Welt, in der sich Wesen mit Spitzohren und Kulleraugen herumtreiben, mit grünem Hautton und fremdartig wirkenden Stimmen.

Anna Maria Brandstätter stützt sich zudem auf ihre vitale Anbindung an die Natur. Sie liebt Tiere, insbesondere Hunde, aber auch Mäuse. Sie liebt die Bäume, den federnden Waldboden und seine daraus hervorsprießenden Pilze, die großen Steinblöcke in ihrer Heimat, das Wasser, das der große Donaustrom tagtäglich an ihrem Atelierhaus vorbeischiebt.

 

Die Interpretation von Kunstwerken liegt zu einem großen Teil auch in den Augen der Betrachter:innen. Was vermögen sie aus den Bildern herauszulesen? Türme, Baumstämme, rankende Pflanzen, gefährliche Stachel von Kakteen, giftige Nachtschattengewächse, Haarwirbel von Tierfellen, die behaarte menschliche Epidermis, aber vielleicht auch gar nichts von alldem. Der Reiz dieser Zeichnungen liegt in der Offenheit der Deutung. Ihre linearen Strukturen wuchern wie Schlingpflanzen. Die Strichlagen entspringen locker ihrer Hand, so wie die Frühlingsblumen aus dem Mund der Flora von Botticelli. Alles Vegetabile ist lebendig, ist Beweis der Schöpfung und Ausdruck organischen Lebens.

 

Anna Marias künstlerisches Schaffen wird von zyklischen Kreisläufen beherrscht, vom Werden und Vergehen und erneutem Werden, das sie in der Natur ganz genau beobachtet. Aus dem, was auf dem Waldboden landet und vergeht, entsteht im Laufe der Zeit Humus für Neues. Die Anschauungsqualitäten von Blüten, Früchten und Blätter von Pflanzen werden auf mehr oder weniger abstrahierte Weise in Zeichnungen überführt. Die der Natur entlehnten Formen mutieren auf diese Art und Weise zu abstrahierten Liniengeflechten. Daraus entstehen Arbeiten mit großer schöpferischer Dynamik, die jedoch, mit fantastischen oder surrealen Einsprengseln bereichert sein können. Anna Maria Brandstätters Zeichnungen entstehen parallel zur Natur, erweisen sich allerdings als völlig autonome künstlerische Arbeiten, die sich alle Freiheiten erlauben, die sie benötigen. Mögen sie eventuell auf den ersten Blick ornamental wirken, stecken sie jedoch voller Überraschungen, voller Respekt vor der Natur und ihren Hervorbringungen. Die Zeichnungen weisen uns darauf hin, dass der Mensch nicht Krone, sondern Teil der Schöpfung ist, ebenso wie Tiere, Pflanzen und die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft.


Das Bauwerk „Turm“

Von Jericho bis Dubai

 

 

Seine Existenz ist nicht eindeutig geklärt und bleibt im Narrativen, aber vielleicht handelt es sich deshalb bei einem der bekanntesten Türme der Menschheitsgeschichte um jenen aus der mythischen Erzählung des „Turmbau zu Babel“. Zahlreiche künstlerische Interpretationen und die im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Darstellungen verankerten ihn im kollektiven Gedächtnis. Die Bibel als Quelle der kurzen Episode berichtet im ersten Buch Mose von Menschen, die nur eine einzige Sprache kannten und eine „Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel“ errichteten. Gott „verwirrte“ die Bevölkerung und zerstreute sie über die ganze Erde1. Somit war seine Handlung eine theologische Erklärung für die Diversität der Menschheit und ihre unterschiedlichen Sprachen. In der allgemeinen Forschung wird dieses Bauwerk von Babel mit der Ziqqurat (Zikkurat) im Innenhof des Marduk-Tempels in Verbindung gebracht2. Seit dem 5. Jahrtausend3 waren stufenförmige, einer Gottheit gewidmete Türme in Mesopotamien gebräuchlich und der Ausdruck Zikkurat bedeutete im babylonischen Sprachgebrauch „hochaufragend, Himmelsberg, Götterberg“4.

 

Archäologisch gesichert und somit der älteste als solcher Benannte ist der im

9. Jahrtausend errichtete „Turm von Jericho“5. Der 8,25 m hohe und im Durchmesser 8 m fassende Turm ist bis heute erhalten. Seine damalige Funktion ist noch nicht geklärt. Die oft für frühkulturelle Monolithen und Säulen gebräuchliche Interpretation eines Phallussymbols und der männlichen Fruchtbarkeit überzeugt in diesem Falle nicht.

22 Stufen in seinem Inneren lassen einen funktionalen Gebrauch erahnen und negieren jegliche Form einer Verwendung als sichtbares männliches Symbol. Vielmehr entspricht es eher dem Prinzip, mit Hilfe eines erhöhten Standpunktes ein größeres Gebiet zu überblicken. Aus diesem Grund wurden auch Burgen oder Landschaftsmarken errichtet – um so den Feind von Weitem zu sehen und auch von „oben“ herab zu bekämpfen. Die in Kriegszeiten errichteten Flaktürme zeugen in manchen Städten auch heute noch von diesem Charakteristikum. Eine friedliche Tradition entwickelte sich aus der weite Landschaften überblickenden Eigenschaft eines erhöhten Bauwerkes: Die Aussichtstürme verschiedener Orte und Städte. Der „Eiffelturm“ in Paris, errichtet 1887-1889, ist ein prominenter Vertreter.

 

Das Bauwerk „Turm“ definiert sich als Gebäude, dessen Höhe die Breite seines Grundrisses übersteigt und das auch auf irgendeine Weise begehbar ist, sei es durch eine Treppe von innen oder außen. Aus seinem lateinischen Wort „turris6“ und seiner Akkusativform „turrim7“ dürfte sich das althochdeutsche „turn“, später das mittelhochdeutsche „turn“ und regionale Abwandlungen entwickelt haben.

Die weitgehende Schriftform von offiziellen Dokumenten blieb bis zu Martin Luthers (1483-1546) für die deutsche Sprache prägende Übersetzung der Bibel aber Latein.

Der Siegeszug seiner Translation bildete die Grundlage für das allgemeine Hochdeutsch und festigte auch den deutschen Namen für das Bauwerk, das er mit „Turm“ übersetzt hatte8.

 

Nicht nur die kriegerische Verteidigung gilt als Anstoß zur Errichtung eines erhöhten Bauwerkes. Auch die Funktion als ein sichtbares Zeichen und somit eine Orientierung in einer weiten Landschaft waren Gründe für die Konstruktion eines Turmes. So wiesen die mit ihren im Obergeschoß entzündeten Feuern errichteten Leuchttürme den Weg über die von Wellenbewegungen und Strömungen des Meeres und der Seen gezeichneten Ufern. Der zu den sieben Weltwundern der Antike zählende „Pharos von Alexandria“ war der erste historisch dokumentierte Leuchtturm seiner Art9 und wie die später weltweit errichteten ein Garant für die möglichst sichere Orientierung. Aufgrund der nautischen Entwicklungen sind Leuchttürme zwar nicht mehr in diesem Ausmaß nötig, aber oft haben sie heute noch den Charakter einer Aussichtsplattform.

 

An christlich sakrale Bauwerke wurden oft Türme angeschlossenen, sei es nun als singulärer Glockenturm oder als Westwerk. Sie sind nicht nur weithin sichtbare Zeichen der Gotteshäuser, sondern waren in verschiedenen Phasen der christlicher Bautradition teils prägender errichtet oder stärker vernachlässigt worden. Die Tradition hatte sich erst im 6. Jahrhundert entwickelt, als in Italien freistehende Glockentürme – sogenannte Campanile10 - neben Kirchen errichtet wurden. Die Sinnhaftigkeit der architektonischen Nutzbarkeit wurde bis dato nicht ausreichend geklärt, aber die bessere Hörbarkeit des Glockengeläutes und das weithin sichtbare Zeichen des Gotteshauses mögen Indikatoren gewesen sein. Ähnlich interpretiert können die ab dem 7. Jahrhundert erbauten Minarette der islamischen Glaubensgemeinschaft werden. Die Rufe der Muezzin11 sind von Weitem hörbar und der Standort der Moschee ist deutlich sichtbar.

 

Wie sehr ein Turm auch immer wieder ein Zeichen und Symbol in der Landschaft ist, erzählen die in buddhistischen, asiatischen Gebieten errichteten Pagoden12, die nur in Europa so bezeichnet werden. Natürlich benennt jedes asiatische Kulturland sie in seiner jeweiligen Sprache, aber sie bedeuten immer einen freistehenden sakralen Turmbau, der eng mit den Grabdenkmälern und Reliquien erleuchteter Mönche verbunden ist13. Damit sind sie ein interpretatorischer Gegensatz zu verwirklichten hohen Bauwerken: Ob im positiven oder im negativen Sinn dienen Türme immer einem aktiven Leben im Hier-und-Jetzt. Diese Pagoden sind Erinnerung an ein verblichenes Leben, das auch in der Nachwelt denkwürdig bleiben soll.

 

Dass die Errichtung eines Turmes auch mit negativen Assoziationen verbunden werden kann, zeigen Ordensgemeinschaften wie die Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner. Sie lehnten den Bau eines Turmes aufgrund seiner Bedeutung der Demonstration von Macht und Größe für ihre Klöster14 ab. Genau diese beiden vermittelten Charakteristika waren die Ausgangspunkte der Präsenz der oberitalienischen „Geschlechtertürme“. Diese wurden ab dem 11. Jahrhundert und in den beiden folgenden Jahrhundert in den Städten errichtet. Sie waren aber nicht nur ein sichtbares Zeichen der einzelnen vermögenden Familien, sondern auch sicherer Rückzugsort in die oberen Geschosse bei Kampfhandlungen. Eine ähnlich verteidigende Rolle spielten auch die mittelalterlichen Bergfriede (Burgfriede), die bei einem Angriff für die Bewohner einen sicheren Zufluchtsort in der Höhe darstellten und eine Verteidigung auf das Untergeschoß minimierten.

In einen negativen Kontext sind die meist nur bodennah zu betretenden und oft zur Befestigungsanlage gehörenden Schuldtürme zu sehen. Der noch erhaltene Schuldturm von Nürnberg (1323)15 ist ein Beispiel für die bis ins 19. Jahrhundert gelebte Praxis, Menschen, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkamen16, in diese Gefängnisse zu sperren.

 

Türme wurden aus unterschiedlichsten Bedürfnissen heraus errichtet. Als sicherer Ort für die Bevölkerung oder zu deren Bestrafung, als Überblick über eine Landschaft oder als ein richtungsweisendes Zeichen der Orientierung, sowie als markantes Symbol zur Demonstration der Macht oder der Größe. Diese Bedürfnisse haben sich in der Neuzeit geändert.

Gerade in Städten ist die verfügbare Fläche oft gering. Dem Wunsch bzw. der Notwendigkeit, möglichst viele Menschen in unmittelbarer Nähe zueinander wohnen oder arbeiten zu lassen und auf manche Stadtviertel zu konzentrieren, wurde im Errichten von Hochhäusern Rechnung getragen. Die ersten Wolkenkratzer waren dem Vermögen der Architekten und Statiker zu verdanken, die alle Möglichkeiten ausloteten. Am Ende der Entwicklung steht nun das höchste Gebäude der Welt: Der bis 2009 errichtete Burj Khalifa in Dubai erreicht die endgültige Höhe von 828 Metern17.

 

So vielfältig die Charakteristika eines Turmes im Laufe der Geschichte waren und sind, bestehen sie doch aus einem Streben nach dem Himmel. Sei es ideologisch oder praktisch nötig. 

 

 

Gabriele Baumgartner

Kunsthistorikerin und Kuratorin

 

 

1_ Genesis, 1. Buch Moses, 11,4 – 11,9

2_ Archäologisches Lexikon, hrsg von Avraham Negev, Jerusalem 1986, S 54

3_ https://de.wikipedia.org/wiki/Zikkurat, abgerufen am 29. 5. 2024

4_ https://de.wikipedia.org/wiki/Zikkurat, abgerufen am 29. 5. 2024

5_ https://de.wikipedia.org/wiki/Turm_von_Jericho, abgerufen 28. 5. 2024, dort: 9. Jahrtausend. Der Artikel des Standards datiert ihn sogar um 11.000 v. Chr. https://www.derstandard.at/story/1297818523064/raetsel-von-jericho-11000-jahre-alter-turm-war-waechter-gegen-die-maechte-der-finsternis, abgerufen am 2. Juni 2024;

6_ https://www.duden.de/rechtschreibung/Turm#synonyme, abgerufen am 31. Mai 2024

7_ https://www.wissen.de/wortherkunft/turm, abgerufen am 31. Mai 2024

8_ https://www.dwds.de/wb/Turm, abgerufen am 31. Mai 2024

9_ Im Mittelalter war er bereits zerstört aber einen exakten Zeitpunkt kann die Forschung bis dato nicht überzeugend nennen.

10_ Campangnile: Vom italienischen Wort für Glocke: Campagne

11_ https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/islam-lexikon/21541/minarett/, abgerufen am 29. 5. 2024

12_ Kunst – und Stilfibel, Hrsg. Von Rudolf Broby-Johansen, München 1988, S 237

13_ https://de.wikipedia.org/wiki/Pagode, abgerufen am 29. 5. 2024

14_ https://de.wikipedia.org/wiki/Kirchturm#:~:text=Ein%20Kirchturm%20ist%20der%20zu,Turm%20keine%20theologische%20Begr%C3%BCndung%20gibt., abgerufen am 29. Mai 2024

15_ https://de.wikipedia.org/wiki/Schuldturm_(N%C3%BCrnberg), abgerufen am 31. Mai 2024

16_ https://de.wikipedia.org/wiki/Schuldgef%C3%A4ngnis, abgerufen am 31. Mai 2024

17_ https://de.wikipedia.org/wiki/Burj_Khalifa, abgerufen am 28. 5. 2024